Warum als Soziologin die Beschäftigung mit dem gebauten Raum?

Gesellschaftsanalyse ist ein Arbeitsfeld ohne Raum möchte man meinen. Es geht ja um Menschen, ihre Verhaltensweisen und Wahrnehmungsmuster. Sie kommen gänzlich ohne den physischen, den gebauten Raum aus.

Die Körperlichkeit des Menschen, und damit auch des Gegenstandes der Soziologie jedoch macht die Beschäftigung mit der Raum- und spezieller Architektursoziologie zu einer Besonderheit. Raum – Landschaftsräume und gestaltete Orte – ist nicht objektiv. Er nimmt Einfluss auf seine Bewohner und Benutzer, sie passen sich an. Und sie passen ihre Umwelt an ihre eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen an.

Der Raum existiert keineswegs nur als Umwelt, als Ort in den Menschen hineingestellt sind, in dem sie agieren. Nein, darüber hinaus formen sie ihn auch. Nach ihren ganz eigenen Vorstellungen. Diese sind, mit Bourdieu, ganz wesentlich davon bestimmt, welche Wahrnehmungs- und Deutungsschemata wir qua unserer sozialen Herkunft mitbringen. Sie werden von Bourdieu unter dem Begriff Habitus zusammengefasst und beeinflussen grundlegend nicht nur, wie wir die Welt wahrnehmen, sondern auch, wie wir sie gestalten. Die eine soziale Gruppe bringt hier auf Grundlage des inkorporierten ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals mehr mögliche Aktionsräume mit als andere. In der Folge der daraus entstehenden Machtpositionen. Soziale Gruppen mit hoher Kapitalakkumulation können gebaute Räume, z.B. städtische Räume, stärker gestalten als soziale Gruppen, denen das benötigte Kapital in geringerer Form zur Verfügung steht.

Ganz im Sinne der Formulierung „jeder von uns ist der öffentliche Raum der Anderen“ drücken wir durch unsere Hexis (den körperlichen Ausdruck des Habitus mit Haltung, Gestik aber auch Kleidung) unsere soziale Zugehörigkeit aus. Dieser Effekt wird besonders deutlich angewandt, wenn eine bewusste Verwendung von Sprache und körperlicher Ausdrucksweise genutzt wird, um die Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe darzustellen als der eigenen „natürlichen“.

Wir gestalten ausgehend von unserer sozialen Gruppe unseren eigenen Körper (als räumliches Objekt) aber darüber hinaus auch den Raum, der uns umgibt. Wir schreiben die unsere Weltwahrnehmung in den Raum ein, indem wir bestimmte Wohnorte, Baumaterialien, Freizeitangebote usw. bevorzugen. Der Raum wird „sozial konstruiert und markiert“ (S. 28). Die Zugänglichkeit zu Räumen und deren Gestaltung hängt wesentlich davon ab, in welcher Form beim Individuum aber auch einer Gemeinschaft Kapital zur Verfügung steht (ökonomisches Kapital, um ein Grundstück zu kaufen (Investor); soziales und kulturelles Kapital, um als Gruppe Gebäude zu gestalten (Hausbesetzer)).

Die Konstruktion des Raumes, der physischen Umwelt, wird somit von Einzelnen bestimmt. Anderen, mit weniger Kapitalvermögen, bieten sich weniger Chancen, Räume mitzugestalten. Ihre Wahrnehmungs- und Deutungsschemata sind weniger im Raum zu finden. Sie bewegen sich in den Räumen der machtvollen, weil kapitalbesitzenden, Gruppen. Sie werden von diesen beeindruckt und fühlen sich unter Umständen auf gewisse Weise fremd, da ihre physische Umgebung nach den Bedürfnissen anderer sozialer Gruppen gestaltet ist. Die Fremdheit bleibt häufig auf eine gewisse Weise diffus, kann sich aber auch konkretisieren und sogar Rechtssicherheit bekommen, wenn sozial unerwünschten Gruppen die Zugänglichkeit entweder durch bestimmte Verhaltensregeln aber auch konkrete Maßnahmen (z.B. Obdachlose im Einkaufszentrum) verwehrt bleibt. Der soziale Raum der Individuen spiegelt sich dann in der Konkretheit des angeeigneten physischen Raumes und wirkt auf diesen zurück.

Bourdieu spricht von der Möglichkeit der Kapitalakkumulation durch räumliche Nähe, die einen rückwirkenden Effekt auf den sozialen Raum haben kann. Gruppen mit hohem Kapitalvermögen versuchen sich hiervon abzugrenzen, indem sie die Zugänglichkeit zu den von ihnen genutzten Räumen möglichst erschweren und sich abschotten (in exklusiven Clubs und „gated communities“ bspw.). Und ist dies nicht möglich, dann sind es die „Umgangsformen“ die Mitglieder der eigenen Gruppe schnell sichtbar machen und andere ausschließen, die nicht über entsprechende Codes der Kleidung und Interaktion verfügen.

Individuen und soziale Gruppen gestalten aber den Raum nicht nur, sie werden auch von ihm gestaltet. Bibliotheken, Restaurants, U-Bahnzüge geben uns bestimmte Verhaltensmaßgaben vor, an die wir uns zu halten haben. Nahezu jeder von uns weiß, dass im Schellimbiss Verhaltensweisen akzeptiert sind (angefangen beim Essen mit den Fingern), die im Restaurant mit gehobener Küche unmöglich wären.

Die Zugänglichkeit von angeeigneten physischen Raumes und die Wechselwirkungen von räumlicher und sozialer Nähe sind die zwei Gründe, aus denen sich die Soziologie mit dem physischen Raum beschäftigen muss.

Pierre Bourdieu hat seine Gedanken hierzu in einem Aufsatz mit dem Titel „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“ formuliert, der 1991 erschienen ist. Er hat diese Gedanken nach meiner Kenntnis nie tiefergehend ausgeführt, da er sich hernach anderen Orten der Machtverhältnisse widmete. Und doch ist dieser Aufsatz für mich maßgeblich für eine Analyse der Spannungsverhältnisse und Interessenskonflikte im Raum, wie wir sie zeitgenössisch erleben. Daher möchte ich im Folgenden eine Kurzzusammenfassung geben:

Der Autor beginnt seinen Aufsatz mit der Betonung der Relevanz des physischen Raumes für die Soziologie aufgrund der Körperlichkeit ihres Gegenstandes. Diese bringe mit sich, dass Verortung im physischen Raum immer nur in Relation zueinander möglich sei. Eine Tatsache die er auch auf den sozialen Raum übertragbar sieht. Sie werde im angeeigneten physischen Raum vergegenständlicht. Nach dieser begrifflichen Fassung der drei titelgebenden Raumbegriffe folgert er für die Analyse, dass eine Ablesbarkeit der sozialen Position eines Individuums aus der physischen Lokalisierung möglich sei. Die Trägheit der Veränderung physischer Räume schaffe daher den Eindruck der „Natürlichkeit“ sozialer Verhältnisse.

Der angeeignete physische Raum sei daher ein Ort, an dem sich Macht („symbolische Gewalt“) vollziehe, die in ihrer Unsichtbarkeit als subtil zu bezeichnen sei. Die unsichtbare Macht derer, die über öffentliche und private Güter bestimmen und verfügen, gestalten auch den physischen Raum. Der gebaute Raum ist hier ein Einflussfaktor für Distanz und Nähe, dies schaffe Ungleichheit und Unkenntnis in der Distanz und im Umkehrschluss auch Verständnis in der Nähe.

„Der soziale Raum ist […] zugleich in die Objektivität der räumlichen Strukturen eingeschrieben und in die subjektiven Strukturen, die zum Teil aus der Inkorporation dieser objektivierten Strukturen hervorgehen.“ (S. 28)

Verteilungsfaktor für die Verortung, die individuelle Position, in der Gesellschaft ist nach Bourdieu der Kapitalbesitz. Und die Chancen der Aneignung von physischen Raum sind abhängig von diesem Kapital. Bourdieus Kapitalbegriff unterscheidet dabei zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, das die Verortung im dreidimensionalen sozialen Raum determiniere.

„Diese doppelte räumliche Verteilung der Akteure als individueller Individuen und der Güter bestimmt nun den differentiellen Wert der verschiedenen Regionen des realisierten sozialen Raumes.“ (S. 29)

Die Chance des Zugangs und der Aneignungen bezeichnet Bourdieu als die „objektivierte Form eines Zustandes sozialer Auseinandersetzungen“ (S. 30), als Raumprofite. Wer über die Verteilung im physischen Raum bestimmen könne, verfüge in der Auseinandersetzung von kollektiven Gruppen über eine machtvolle Position. Bourdieu klassifiziert drei Arten von Raumprofiten: a) Lokalisationsprofite, b) Positions- oder Rangprofite und c) Okkupations- oder Raumbelegungsprofite.

Für die Analyse zieht der Autor den Schluss, dass sich aus der Verortung im physischen Raum auf die Position im sozialen Raum schließen lasse. Der dauerhafte räumliche Ausschluss von bestimmten Räumen habe zudem einen Effekt auf die Chancen des Einzelnen auf Kapitalerwerb.

Pierre Bourdieu (1991), Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Wentz, Martin (Hrsg.) Stadt-Räume, S. 25-34.